Sehr oft wird der Eintritt in eine Pflegeinstitution wegen Selbst- oder Fremdgefährdungunumstösslich, mitunter auch, um die Gesundheit von pflegenden Angehörigen zu erhalten. In Einrichtungen wie der Betagtenzentren Emmen AG (BZE AG) finden Personen mit einer demenziellen Erkrankung ein liebevolles neues Zuhause. Und dann kam die Pandemie und machte Schwieriges noch schwieriger. Demenz und Covid-19 sind eine toxische Kombination, die Betroffene, Angehörige und Institutionengleichermassen vor grosse Herausforderungen stellt. Nun müssen alle mit etwas leben, was sich mit den Grundbedürfnissen nur schwer vereinbaren lässt. Der gordische Knoten bleibt eng geknüpft; ihn zu lösen, lassen die unheilversprechenden Konsequenzen nicht zu.
Wenn die Kräfte von pflegenden Angehörigen nachlassen Herr P. lebt seit Anfang 2020 in der Demenzwohngruppe im Emmenfeld Betagtenzentrum. Nach 50 gemeinsamen Ehejahren, zehn davon mit der Diagnose Demenz, musste Frau P. kapitulieren. In den immer seltener werdenden klaren Momenten, in welchen sich der Vorhang des Vergessens für einen kurzen Augenblick lüftete, ermahnte Herr P. seine Frau eindringlich, sich Hilfe zu holen – weinend lagen sie sich in den Armen, wohlwissend, dass diese Augenblicke irgendwann verschwunden sein werden. Auf jedes «Jetzt gohts denn nüme» folgte ein «Mol, eg probieres nomol».
Ihr Gatte rannte, auf der Suche nach seiner Frau, auf den befahrenen Pilatusplatz. Sie stand neben ihm – zur Fremden geworden. Als Fremde sperrte er sie auch aus der Wohnung oder lief vor ihr davon. Des Öfteren fand er den Weg zur Toilette nicht mehr. Kinderlos, meisterte Frau P. die Pflege ihres Mannes alleine. Eine Verschnaufpause verschaffte lediglich eine wöchentliche halbtägige Betreuung durch den Entlastungsdienst «Visita». Als Tagesgast im Zuge des Entlastungsangebots kam Herr P. zur BZE AG und blieb bald darauf als fester Bewohner im «Emmenfeld». Frau P. fand wieder ins Leben zurück, hat Nachholbedarf und freut sich, nochmals neu am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu dürfen.
Und dann Corona
Mehrmals wöchentlich besucht Frau P. ihren Ehemann im «Emmenfeld» und verbringt ca. 1,5 Stunden bei und mit ihm. Seine sprachliche Ausdrucksfähigkeit liegt noch bei zirka zehn Prozent. Oft versteht Frau P. seine Aussagen nicht mehr. Vermehrt ist er am «Schaffe», wobei er nicht vorhandene Gegenstände hin und her räumt. Mit seinem Lieblingsgetränk Coca-Cola vermag Frau P. ihn ab und an aus dem Dämmerzustand zu holen; viel mehr liegt leider nicht mehr drin.
Und doch: Herr P. fühlt sich ruhiger an, wenn seine Frau da ist, seine Hand streichelt oder einfach neben ihm sitzt. Er ist kein Einzelfall, wie die Pflegenden konstatieren. Wenn Frau P. aufsteht, fragt er allerdings nicht, wann sie wiederkommt oder warum er nicht mitgehen kann. Das schmerzt die 71-Jährige. Dennoch weiss sie, dass ein ursprünglicher Teil ihres Mannes das Wohlwollen spürt und die physische Wärme dankend annimmt. «Der physische Kontakt ist bei Demenzbewohnenden besonders zentral», bestätigt Ursula Huwiler, Teamleitung Pflege und Betreuung in der Wohngruppe Emmenfeld.
Umso schwieriger wurde es, als Frau P. ihren Mann im Frühling aufgrund des coronabedingten Besuchsverbots in Alters- und Pflegeheimen rund fünf Wochen nicht besuchen konnte. «Er hat ziemliche Rückschritte gemacht und hat mich kaum noch erkannt», schildert Frau P. ihre Besuche nach dem Lockdown betroffen. Vollkommen überzeugt ist sie, dass die Übersiedlung in die BZE AG richtig war, auch, dass ihr Mann in guten Händen ist.
«Alle 18 Bewohnenden werden für voll genommen. Sie sind noch jemand in den Augen der Pflegenden. Man kümmert sich sehr gut und liebevoll um sie», lobt sie die Wohngruppen-Mitarbeitenden. Und doch war die Ungewissheit unerträglich. Und auch Ursula Huwiler stellte fest, dass sich die zunehmende Einsamkeit der Bewohnenden merklich in Form von Unzufriedenheit und Unruhe äusserte. Mangelndes Zeitgefühl und eingeschränkte kognitive Wahrnehmung vergrösserten die zunehmende Isolation aufgrund der ausbleibenden Besuche und forderten von den Pflegefachpersonen viel zusätzlichen Effort und Zuwendung.
Und jetzt – wie weiter?
Ein längerfristiges Besuchsverbot wurde vom Kanton Luzern schnell wieder aufgehoben, aber die Situation bleibt schwierig. «Es ist eine Gratwanderung zwischen Herz und Verstand», sagt Ursula Huwiler. «Den Demenzbewohnenden kann man noch so von Corona berichten, wenn sie weinen, muss man sie in den Arm nehmen.» Demente Menschen kann man weder isolieren noch von Körperkontakt zu anderen abbringen.
Die langjährige Pflegefachfrau ist sich ihrer Verantwortung den Bewohnenden gegenüber mehr als bewusst: «Wie ‹Häftlimacher› sind wir dahinter, die Hygiene- und Schutzmassnahmen so streng wie nur irgendwie möglich einzuhalten.» Man ist sich einig, dem Virus will niemand Einlass gewähren. Aber die Schutzmassnahmen – so streng und für die Bewohnenden mitunter unverständlich sie auch sein mögen – «verhebid», worüber Ursula Huwiler mehr als glücklich ist. Ebenso Frau P., die wie viele andere Angehörige sehr froh ist, dass sie ihren stark dementen Mann wieder regelmässig besuchen kann. Sie ist dankbar, dass sie die wenigen Momente, in denen sich der Vorhang nochmals für einen Sekundenbruchteil hebt, geniessen darf.